Balanceakt zwischen Technologie und Menschlichkeit
Podium in Wettswil – Fortsetzung von Seite 1

An der Veranstaltung zur künstlichen Intelligenz (KI) in der Schule erklärt Jörg Berger, Co-Schulleiter in Knonau, in seinem Referat, dass man trotz aller Effizienzversprechen eines nicht vergessen dürfe: «Die Digitalisierung hat uns vor Jahren dasselbe Versprechen auch schon gegeben; wir hätten dann mehr Zeit, wurde uns vorausgesagt. Doch schauen Sie sich mal dieses heutige Gehetze an.» Ob es diesmal anders sei, das sei nun die grosse Frage. Ein anderer Aspekt, den es zu beachten gelte, sei der Umstand, dass die KI-Systeme weltanschaulich nicht neutral seien. Es müsse daher ein ethisches Bewusstsein bei der Benützerin oder beim Benützer vorhanden sein. «In die KI-Systeme sind zum Teil rassistische und sexistische Daten eingefüttert, und diese zeigen sich dann auch an den Resultaten, welche die Maschine ausspuckt.»
Der Knonauer Schulleiter schliesst seine Ausführungen zu KI im Unterricht mit ein paar mahnenden Gedanken: «Es könnte auch sein, dass das Ganze nur gut gemeint ist und letztlich das sprichwörtliche Gegenteil von gut. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die KI nur als Kontrollmaschinerie benutzt würde und nicht als Unterstützung für die Lehrperson. Dann droht eine Entmenschlichung.»
Erwachsene profitieren von einem Vorwissen, das Kinder nicht haben
Bei der anschliessenden Podiumsdiskussion kommt unter anderem Andreas Schönenberger zu Wort, ehemaliger Country-Manager bei Google und aktueller CEO des Krankenversicherers Sanitas. «KI wird alles fundamental verändern», prognostiziert der Wirtschaftsvertreter. Dies werde nach aussen hin aber nicht sofort sichtbar: «Lange merkt man nichts, doch dann erkennt man plötzlich nichts mehr wieder», so seine Worte, die aufhorchen lassen. Es folgt ein Zitat des britischen Physikers Stephen Hawking: «Wir müssen versuchen, sie zu kontrollieren, sonst kontrolliert sie uns.» Für Schülerinnen und Schüler sei es aber unabdingbar zu wissen, wie sie solche Anwendungen nutzen können, da sie diese Fertigkeit später im Berufsleben brauchen werden, fährt Andreas Schönenberger fort.
Philippe Wampfler, Lehrer, Autor und Experte für digitales Lernen, bringt einen weiteren Aspekt ein. «Wir dürfen nicht vergessen, dass wir als erwachsene Menschen viel Vorwissen mitbringen, das die Kinder noch nicht haben», legt er dar. Somit sei es für den Nachwuchs schwieriger, die von der Maschine generierten Ergebnisse zu beurteilen. Ausserdem dürfe nicht ausser Acht gelassen werden, dass künstliche Intelligenz auch extrem demotivieren könne. «KI kann ohnehin alles besser als ich, wozu soll ich mich dann noch anstrengen», derlei Gedanken schwächten die Schüler, anstatt sie voranzubringen. Verstärkt würden solche Gefühle durch den Umstand, dass mit dem Smartphone quasi jede und jeder die KI in der Hosentasche mit sich herumträgt und das Delegieren einer Aufgabe stets nur eine Armlänge entfernt ist. «Die Entwicklung zu gesunden Menschen braucht Erfolge und kein Gefühl der Unterlegenheit», so die Kernbotschaft.
Xavier Nietlisbach, Verantwortlicher Berufsbildung in einer Dienstabteilung der Stadt Zürich, zeigt sich auf dem Podium überrascht darüber, wie schnell vermeintlich in Fleisch und Blut übergegangene Fertigkeiten bei der jungen Generation auch wieder verschwinden können, sobald sie sich mit Neuerem beschäftigen. «Ich staune schon manchmal, was die ganz Jungen mit den sozialen Netzwerken alles anstellen können, aber eine gescheite Google-Suche bringen sie oft nicht mehr hin», so seine Beobachtung. Ob bei einem Bewerbungsschreiben die KI oder aber die Eltern geholfen hätten, sei für ihn zweitrangig. «Die bewerbende Person hat sich dann zumindest die Mühe gemacht, sich Hilfe zu holen.» Bei handwerklichen Berufen gebe es den Vorteil, dass man in einer Schnupperlehre sehr schnell merke, ob jemand den Schraubenschlüssel richtig halten könne und für die Anforderungen des Berufs geeignet sei.
Doch kann die künstliche Intelligenz wirklich alles so gut, wie sie es vorgibt zu können, und bis wohin darf man ihr vertrauen? Philippe Wampfler schlägt hier einen Bogen zu Jörg Berger, der zuvor von der Möglichkeit zur effizienten Zusammenfassung eigenen Textmaterials berichtet hat, und lässt das Publikum wissen, dass er eine künstliche Intelligenz ebenfalls mit eigenen Texten «füttert». «Da weiss ich, was verarbeitet wird, und welche Qualität es hat.»
Die Prozesse, die eine KI zu ihren Ergebnissen kommen lassen, seien aber kaum zu durchschauen, am besten sei es, selbst auszutesten, welche Eingaben zu welchen Ergebnissen führten. Um im Schulalltag aber wirklich den vollen Nutzen aus solchen Systemen ziehen zu können, müsste man zur Erlangung der angesprochenen individuellen Förderung Profile aus den Lerndaten der Schülerinnen und Schüler erstellen, was aber natürlich neue Probleme mit sich bringe. «Die jungen Menschen auf diese Weise vermessen lassen, wollen wir das?», so seine Frage, deren Dringlichkeit fast schon mit Händen zu greifen ist. Andreas Schönenberger nimmt den Faden auf und betont, dass wir als Gesellschaft entscheiden müssten, ob wir so etwas nutzen wollten. Das Problem stelle sich ja auf ähnliche Weise auch bei den besonders schützenswerten Patientendaten.
Nachdem Philippe Wampfler noch kurz das Problemfeld von KI-generierten Schülerarbeiten gestreift hat (mittlerweile gebe es KI-Programme, die herausfinden sollen, ob ein Text «echt» ist oder von einer künstlichen Intelligenz verfasst wurde), geht der überaus informative Bildungsabend in seine «Endrunde». Mehrere Referenten betonen, dass es genau der richtige Zeitpunkt gewesen sei für eine solche Veranstaltung, denn die technologische Entwicklung verlaufe so schnell, dass die Themen sich vor zwei Jahren noch ganz anders dargestellt hätten. «Die Schüler müssen sagen können, was ich in der Schule erlebe und lerne, das könnte ich zu Hause am Computer nicht haben», formuliert Philippe Wampfler seinen Schlusssatz, und Jacqueline Hodel, Co-Schulleiterin der Primarschule Wettswil, plädiert für eine gesunde Balance zwischen Technologie und Menschlichkeit. Eine Lehrperson, die einem mit einem Schulterklopfen sagt «das hast du gut gemacht» sei etwas völlig anderes als das Feedback von einer Maschine. «Wir als Schule sind kritisch und nehmen nicht alles blindlings an», verspricht sie.