«Die Initiative seriös diskutieren»
Sowohl SVP-Nationalrat Claudio Zanetti als auch SP-Nationalrat Martin Naef stehen zur direkten Demokratie und befürworten die Menschenrechte – auch wenn sie bezüglich der Selbstbestimmungsinitiative entgegengesetzte Positionen vertreten. Die Ämtler SVP lud am Mittwochabend zu einer kontradiktorischen Veranstaltung.

Es gehe um die Frage, wer in der Schweiz das letzte Wort habe, eröffnete Claudio Zanetti die Diskussion. Martin Naef stellte klar, dass er die direkte Demokratie genauso befürworte wie sein Gegenüber, aber es werde nicht über die direkte Demokratie abgestimmt, sondern über den Text der Initiative. Da dieser in entscheidenden Punkten unklar sei, würde ein Ja zur Vorlage vor allem zu einem «Durcheinander» führen.Die differenzierte Diskussion war ganz im Sinn von Martin Naef, der zu Beginn des Gesprächs den Wunsch deponierte, auf gegenseitige Polemik zu verzichten und auf der Sachebene zu bleiben, denn «es gibt einige Gründe, seriös über diese Initiative zu diskutieren.»
«Ich verstehe die Angst der Wirtschaft nicht»
Die beiden Juristen auf dem Podium waren sich einig, dass die Gerichte in der Interpretation von möglicherweise widersprüchlichen Bestimmungen eine Güterabwägung vornehmen müssen. Für Zanetti bedeutet dies, dass im Fall einer Zustimmung zur Initiative die Bundesrichter den Auftrag erhielten, den Verfassungsbestimmungen Priorität einzuräumen. «Ich verstehe die Angst der Wirtschaft nicht», fügte er bei.
Naef dagegen betonte, die Schweiz als Exportland sei davon abhängig, vertragsfähig zu bleiben. Die SVP könne – wie im Fall der Personenfreizügigkeit – mit einer Initiative ein konkretes Vertragswerk infrage stellen. Wenn aber gemäss der Selbstbestimmungsinitiative eine Bestimmung in die Bundesverfassung aufgenommen würde, dass sie jederzeit Vorrang vor freiwillig eingegangenen Verträgen habe, führe dies zu Rechtsunsicherheit in der Schweiz und zu einem Ansehensverlust bei den Partnerstaaten. Es seien schliesslich vor allem die kleinen Staaten, die auf internationale Verträge angewiesen seien.
Während Zanetti einige Entscheide des Bundesgerichts kritisierte, die mit Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention gefällt wurden, wies Naef darauf hin, dass diese in Europa grundsätzlich unbestritten seien – ausser dem Vatikan bleibe ihr nur Weissrussland fern. Sollte die Schweiz auf Distanz zur Menschenrechtskonvention gehen, wäre sie dabei in ziemlich schlechter Gesellschaft.
Erübrigt Referendumsdemokratie ein Verfassungsgericht?
Auf den Vorwurf Zanettis, das Parlament habe die Masseneinwanderungsinitiative nicht korrekt umgesetzt, antwortete Naef, es sei die SVP, die sich gegen ein Verfassungsgericht wehre. Dem hielt Bezirksparteipräsident und Kantonsrat Hans Finsler in der Publikumsdiskussion entgegen, in der Schweizer Referendumsdemokratie wache das Volk über die korrekte Umsetzung der Verfassung, deshalb sei die Schweiz weniger auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit angewiesen als andere Länder. Tatsächlich hätte gegen das Gesetz zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative das Referendum ergriffen werden können, was in anderen Staaten nicht möglich ist.
Claudio Zanetti ergänzte als Gegner einer Verfassungsgerichtsbarkeit, das Bundesgericht sei durchaus befugt, Verfassungsverletzungen festzustellen, er ziehe es aber vor, wenn das Volk über Initiativen und Referenden diese Funktion ausübe. Schmunzelnd fügte er bei: «Manchmal wäre es tatsächlich interessant, was ein Verfassungsgericht zu gewissen Parlamentsentscheiden sagen würde.»
Auf die Frage von Gesprächsleiter Marc Bochsler, was geschehe, wenn die Initiative angenommen würde, antwortete Claudio Zanetti, es würde keine Revolution geben, doch der Druck auf das Bundesgericht, zur sogenannten «Schubertpraxis» zurückzukehren und neueren Volksentscheiden den Vorrang vor älteren Staatsverträgen einzuräumen, würde zunehmen. Martin Naef wies darauf hin, dass nicht nur von rechts, sondern auch von links Staatsverträge in Zweifel gezogen würden, wie beispielsweise die aktuelle Diskussion um den Ausschluss von Palmöl aus Freihandelsabkommen zeige.
Zum Abschluss der angeregten Diskussion wies alt Nationalrat Toni Bortoluzzi auf die nächste Veranstaltung der SVP Bezirkspartei hin: am 19. November kreuzen in Affoltern alt Bundesrat Christoph Blocher und Chefunterhändler Roberto Balzaretti die Klingen bezüglich des institutionellen Rahmenabkommens mit der EU.