Im Alter die eigene Biografie schreiben
Das Leben ordnen und ein Zeugnis des eigenen Lebens hinterlassen
Jedes Leben ist einzigartig. Viele Menschen spüren im Alter das Bedürfnis, ihre Erfahrungen und Erlebnisse festzuhalten. Als Geschenk an die Nachkommen, an andere Menschen, die vielleicht aus der persönlichen Lebensgeschichte von Schreibenden Denkanstösse erhalten oder etwas über ihre eigenen Wurzeln erfahren. Wer schreibend seine eigene Lebensspur legt, setzt sich mit seiner Geschichte und seiner Persönlichkeit auseinander. Dies kann auch das Loslassen erleichtern. Es ist, wie ein Fazit ziehen, ein Ordnen der Erinnerungen. Und damit hoffentlich auch eine Versöhnung mit dem gelebten Leben.
Sein Leben erzählen
Das Wort Biografie kommt aus dem Griechischen und heisst «das Leben schreiben». Autobiografie heisst «Selbstbiografie». Synonym gebraucht wird auch der Begriff Memoiren, mit Wurzeln im Latein und aus dem Französischen übernommen. «Mémoires» bedeutet Gedächtnis, Erinnerungen. Eine Autobiografie schreiben bringt einen dazu, sich an eigene Lebensphasen und Lebensereignisse zu erinnern, diesen gedanklich nachzuspüren. Gegen Ende des Lebens will man damit oft ein Fazit ziehen und idealerweise mit neu bewerteten schwierigen Geschichten Versöhnung finden.
Die Obfelder Künstlerin Katharina Proch hat seit der Gründung ihrer Familie Tagebücher geschrieben und mit Skizzen aus dem Alltag dokumentiert. Diese will sie nun für ihre Kinder und Enkelkinder zusammenfassen.
Zudem will sie die Kurzgeschichten, Gedichte und Träume, die sie schon zu Zeiten ihres Studiums im Zug auf dem Weg zur Hochschule schrieb, aufgreifen. Sie erzählt: «Ich habe mit meiner Familie viele Reisen unternommen, die für damalige Verhältnisse exotisch waren, und sie in Berichten festgehalten. Nun will ich all das Erlebte aufschreiben.»
Sie hat die Form eines Romans gewählt: «Damit ich nicht in Versuchung komme, zu persönlich zu werden.» Zudem hilft ihr das Schreiben, Ordnung zu schaffen: «Die Sammlung all der Briefe und Postkarten verstopfen kistenweise meinen Schrank.»
Die Sicht der Verlagsvertreterin
Angela Kindlimann, Geschäftsführerin von Scheidegger & Co. AG, ist ein grosser Fan von Biografien: «Sie geben uns die Möglichkeit, einen Blick auf eine Zeit zu erhaschen, die man selbst vielleicht nie erlebt hat – oder aber erlebt hat und sie so mit anderen Augen sehen kann. Ein Grundprinzip der Literatur ist meines Erachtens die Horizonterweiterung des Selbst. Was kann da besser helfen als andere Lebensgeschichten.»
Als Fachfrau weiss sie aber auch, dass Verlage mit Manuskripten überschwemmt werden. Was macht eine veröffentlichungswürdige Biografie aus? Angela Kindlimann zählt auf: «Bekannte Person, Sprache, Aktualität oder wichtiges Zeitzeugnis.»
Eine Alternative zum Veröffentlichen durch einen Verlag ist das Publizieren im Eigenverlag. «Das ist eine teure Investition, die nicht sonderlich relevant für den Handel ist», weiss Angela Kindlimann. «Aber eine schöne Möglichkeit, wenn Schreibende – mit dem nötigen Kleingeld – eine Publikation für Freunde und Familie möchten. Ganz selten ergibt sich daraus auch mal ein Titel, der danach in einem Verlag publiziert wird.»
Eine Biografie schreiben bedeutet auch ausdauernde «Knochenarbeit.» Es gibt diverse Kurse zum «freien Schreiben». «Da lernt man das Handwerk – und was immer hilft: lesen, lesen, lesen», ist die Buchhändlerin überzeugt. Zudem rät sie, eine Mentorin oder einen Mentor zu suchen, der nicht aus dem eigenen privaten Kreis kommt, einen sprachlichen und literarischen Hintergrund besitzt und objektiv zurückmeldet.
Wurzeln suchen – Wurzeln vermitteln
Wenn Katharina Proch aus ihrer Kindheit und Jugend erzählt, ist man tief betroffen. Der Vater ist im Krieg gefallen, Geschwister hatte sie keine und Verwandte existierten nicht – oder nicht mehr. Sie wuchs im Nachkriegsdeutschland bei einer Tante auf und etablierte sich nach dem Studium der Textiltechnik in der Modebranche. «Nach dem Tod meiner Mutter tauchten bei mir viele Fragen auf, die mir nun niemand mehr beantworten kann. Das will ich meinen Kindern ersparen.» Antworten sollen ihre Kinder und Enkelkinder in ihrer Biografie finden.
Katharina Proch will ihre Biografie nicht veröffentlichen, ihr ist insbesondere auch der Prozess wichtig. «Ich staune manchmal über das Erlebte. Während ich schreibe, fallen mir die wunderbarsten Erinnerungen ein. Oft lachen mein Mann und ich über Geschichten, die wir nicht immer zeitlich einordnen können und begeben uns auf die Suche danach.»
Sie rät: «Man soll sich die Zeit nehmen, Eltern und Verwandte mit Fragen zu löchern, bevor es zu spät ist und Tagebuch zu schreiben und eine schriftliche Agenda zu führen, in der alle Anlässe notiert sind.»
Heilende Wirkung
Biografie schreiben als Technik zur Selbsthilfe oder als therapeutische Intervention ist breit anerkannt. Das Schreiben oder Erzählen hilft, innezuhalten, um den inneren Halt wiederzufinden. Es wirkt sich bei langwierigen physischen Erkrankungen oft positiv aus und hat die Kraft, depressive Symptome zu lindern. Der Pflegewissenschaftler Erwin Böhm geht davon aus, dass Körper, Seele, Geist, soziales Umfeld und persönliche Geschichte in einem ständigen Zusammenhang stehen, sich einander bedingen und aufeinander wirken. Er plädierte für pflegerische Biografiearbeit, die Pflegende ihre Patienten besser verstehen lässt. Auch bei dementen Personen ist achtsame und respektvolle Biografiearbeit wichtig, nicht nur in der Pflege, sondern generell im zwischenmenschlichen Kontakt. Sie kann ein Schlüssel zu noch vorhandenen Fähigkeiten sein, die zu fördern es gilt.
Es gibt viele gute Gründe, sich Gedanken über das Schreiben der eigenen Biografie zu machen. Und einfach zu beginnen – ohne sich durch den Einwand, nicht schreiben zu können, bremsen zu lassen.
Biografie schreiben
Um das eigene Leben zu Papier zu bringen, gibt es viele Wege. Vielleicht helfen ein paar Tipps. Zuerst kann man Erinnerungen auf einzelne Blätter schreiben und sammeln. Man erkundigt sich bei Verwandten und Bekannten nach deren Erinnerungen zu gemeinsam Erlebtem. Diese Erinnerungsgeschichten ordnet man – meistens zeitlich. Man kann eine Biografie aber auch anders aufbauen, beispielsweise mittels bestimmter Altersspannen, Wohnorte, Karriere- oder Entwicklungsschritte. Dabei gilt nicht nur zu reflektieren, was man getan hat, auch wie man sich gefühlt hat, wie man sich verändert hat, vor welche Herausforderungen man sich gestellt sah, welche Werte lebensführend wichtig waren. Man kann auch Orte besuchen, die auf dem Lebensweg eine Rolle gespielt haben, und erleben, was aus der Erinnerung an Erfahrungen, Bildern, Düften, Sätzen und Geräuschen auftaucht. Auch bestimmte Gerüche wecken Erinnerungen, beispielsweise an Weihnachten der Kindheit, an Jahreszeiten oder an das Parfüm einer fast vergessenen Tante. Wonach duftet Herbst, wonach Garten, wonach Kirche für mich? Es gilt, Erinnerungen über alle Sinne aus ihren Verstecken zu kitzeln. Beim Schreiben muss man daran denken, dass Lesende allenfalls verletzt werden könnten. Also Aussagen über andere immer überprüfen: Möchte ich diesen Satz über mich selbst lesen? Wird eine Biografie mit beleidigenden, falschen oder verletzenden Aussagen veröffentlicht, kann dies rechtliche Folgen haben.
Die Leserinnen und Leser sollen etwas lernen können, zum Nachdenken über sich selbst und zu Ideen der Problembewältigung gebracht werden. Jammer-Biografien, egozentrische Nabelschauen oder langweilige Auflistungen werden meist nicht gern gelesen. Das Schreiben der eigenen Biografie macht vielleicht zeitweise traurig. Als Fazit steht aber wohl bei den meisten Menschen: «Es ist mein Leben – und ich möchte es mit keinem anderen tauschen. Es war vielleicht nicht immer einfach, aber es ist mein Leben. Und dafür bin ich dankbar.»