Publikum im Bann einer aussergewöhnlichen Fernwanderin
Christina Ragettli las in der Bibliothek Hausen aus ihrem Buch «Von Wegen»

2363 Kilometer durch die Alpen. Zu Fuss und ganz allein. Was wird diese Frau wohl alles zu berichten haben, und vor allem, wie ist sie als Mensch? Diese Frage brennt wohl vielen unter den Nägeln, die sich am Freitagabend letzter Woche in der Bibliothek Hausen zur Lesung von Christina Ragettli einfinden.
«Von Wegen» heisst das Buch der Bündnerin, die im Coronajahr 2020 zu ihrem grossen Abenteuer aufgebrochen ist und die Alpen von Triest bis Monaco durchwandert hat. «Ich hätte nie gedacht, einmal ein Buch zu schreiben, und noch viel weniger, dass es auf solches Interesse stossen würde», blickt die Autorin zu Beginn der Lesung zurück. Vor drei Jahren ist aber genau dies geschehen, und ganz kurzfristig sei damals vom Verlag entschieden worden, die Startauflage von 1000 auf 2000 Exemplare zu verdoppeln. «Dennoch war die gesamte Auflage nach zwei Tagen vergriffen, es ist unglaublich», so die Solo-Fernwanderin.
Das Bergwandern war ihr sicherlich in die Wiege gelegt, schliesslich ist sie ja in Flims aufgewachsen, mutmasst nun der eine oder die andere. Doch auch dieser Weg war bei Christina Ragettli nicht in dem Masse vorgezeichnet, wie man meinen könnte. «Mit zwölf Jahren hatte ich erst mal genug vom Wandern, ich empfand es als nicht sehr spannend», erinnert sich die PR-Fachfrau, deren Bruder Andri vielen als herausragender Freestyle-Skier ein Begriff ist. Im Alter von etwa 20 sei dann das Interesse zurückgekehrt, und sie habe begonnen, mit einer Freundin Zwei-Tagestouren im Gebirge zu machen. «Das Tollste daran war für mich aber nicht das Wandern an sich, sondern das Übernachten im Zelt», schmunzelt sie.
Typische Anfängerfehler
Bei diesen ersten Touren seien ihr sämtliche typischen Anfängerfehler unterlaufen, so habe etwa ihr Rucksack 20 Kilogramm gewogen und ihr das Gehen zur Strapaze gemacht. Doch diese Phase war offenbar schnell überwunden, und Christina Ragettli begann, vom Pacific Crest Trail im Westen der Vereinigten Staaten zu träumen, von dem sie immer wieder gehört hatte. «Tatsächlich habe ich dann jemanden kennengelernt, der mit mir auf diese 4000-Kilometer-Tour mitgekommen wäre, doch er hat sich dann leider einen Knochenbruch zugezogen und fiel als Reisepartner aus», berichtet die Bündnerin dem Hausemer Publikum. So sei sie irgendwann auf die «Rote Via Alpina» (es gibt mehrere Routen auf diesem Weitwanderwegenetz, die mit Farben gekennzeichnet sind) gestossen, die «nur» 2600 Kilometer misst.
«Es hat dort keine Klapperschlangen, und es wird auch nicht über 25 Grad heiss, was eigentlich ganz gute Bedingungen sind, aber die Höhenmeter haben es in sich», waren ihre ersten Gedanken. Schliesslich festigte sich ihr Vorhaben, es mit dieser Route zu probieren, und im Jahr 2019 habe sie dann ihre Stelle gekündigt. «Zu diesem Zeitpunkt gab es aber noch zwei Möglichkeiten für mich, Variante A war die Via Alpina, Variante B wäre Arbeiten in einer Berghütte gewesen», erklärt Ragettli schmunzelnd. Was führte dann zur endgültigen Entscheidung? «Am letzten Tag in der Runde mit den Skilehrern fragten die anderen: «Was machst du denn im Sommer», und ich sagte ganz selbstverständlich: «Da gehe ich auf die Rote Via Alpina», lautet die Antwort. Nun habe es quasi kein Zurück mehr gegeben. Schon bald sei das Startdatum festgestanden, der 1. Mai 2020, und der Ausgangspunkt, der Monaco hätte sein sollen. Unglücklicherweise habe dann aber der im März ausgerufene erste Corona-Lockdown ihre Pläne durchkreuzt, und sie habe beschlossen, die Schweiz-Etappe der Via Alpina an den Anfang ihres Fernwander-Abenteuers zu stellen und die Etappen im Ausland später folgen zu lassen, sobald die Sperrungen wieder aufgehoben sein würden. Da zu diesem Zeitpunkt aber noch viel Schnee lag, sei die Schweiz das schwierigste Land zum Durchwandern gewesen. Ragettli liest einige Szenen aus ihrem Buch vor, an der Stelle, wo sie beim Abstieg im strömenden Regen über ein steiles Schneefeld ausrutscht und den Hang hinuntergleitet, halten alle im Saal den Atem an. «Das Ende des Schneefelds kam auf mich zu, ich rammte die Felsen und überschlug mich», so der ungefähre Wortlaut. Ihr Fussknöchel habe geschmerzt, die Hand geblutet, und keine Hilfe sei weit und breit in Sicht gewesen. Hätte sie weinen sollen? Das hätte ohnehin niemand bemerkt in dieser Bergeinsamkeit. Doch ein Selfie habe sie von sich gemacht in jenem Augenblick der Verzweiflung, um ihn für sich selbst festzuhalten. «Das Bild hat noch nie jemand ausser mir gesehen, bis heute», erzählt die von der Natur auf so manche harte Probe gestellte Fernwanderin. In Frankreich habe sie nachts in ihrem Zelt Wölfe gehört, was einerseits extrem schön, aber auch beängstigend gewesen sei, zudem hätten ihr Herdenschutzhunde das Leben nicht unbedingt leichter gemacht. «Es gab an einer Stelle eine Tafel mit den Fotos und Namen der Hunde, die man sich merken sollte, um sie angemessen begrüssen zu können», berichtet Ragettli. «Der Hund denkt dann, die kennt ja meinen Namen, sie kann nicht mein Feind sein.» Auch der gemeinsame Wegabschnitt mit einem anderen Fernwanderer aus Deutschland, der zu diesem Zeitpunkt insgesamt schon über 35000 Wanderkilometer unter seinen Füssen hatte und zu einer bleibenden Bekanntschaft geworden ist, wird Teil der beeindruckenden Lesung.
Reges Interesse an der Lesung
«Ich hatte die Idee, Christina Ragettli einzuladen, wir haben in Hausen auch viele Wanderfreunde, da war es naheliegend», erzählt Monique Blahgi vom Bibliotheksteam dem Berichterstatter des «Anzeigers», und Bibliotheksleiterin Katrin Tandler ergänzt: «Ich nahm es gleich in die Hand, und es klappte.» Fast alle Plätze im Saal seien im Voraus reserviert worden, was das grosse Interesse widerspiegle. Die Besuchenden genossen die Lesung dann auch sichtlich.