Rote Schnäbel im Schnee
Streifzüge durch die Natur (34): Viele Weissstörche bleiben im Winter hier und trotzen Kälte und Schnee. Weshalb?
Stoisch schreiten sie mit ihrem eleganten weiss-schwarzen Federkleid und ihren roten Beinen übers Feld und lassen sich weder von vorbeifahrenden Autos noch von Velofahrern stören. Kommt ihnen ein Spaziergänger mit Hund zu nahe, fliegen sie kurz auf und lassen sich mit wackelig ausgestreckten Beinen andernorts wieder nieder. Bis zu 20 oder noch mehr Störche können im Säuliamt gemeinsam beobachtet werden, wenn es irgendwo Mäuse oder Regenwürmer zu futtern gibt – und dies auch jetzt mitten im Winter. Letzthin zählte ich am Flachsee an der Reuss gar 42 Störche, wie sie frierend dicht zusammenstanden und so der Bise trotzten.
Solche Szenen wären vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen. Im Jahr 1949 starb der Weissstorch in der Schweiz als Brutvogel aus. Und es sollte lange dauern, bis sich die Art wieder so richtig als Wildvogel etablieren konnte – dank des Wiederansiedlungsprojekts des «Storchenvaters» Max Bloesch. Der Turnlehrer importierte insgesamt 292 Jungstörche aus Algerien per Swissair in die Schweiz und päppelte sie in Altreu (SO) in Käfigen auf. Später kamen weitere Storchenkolonien hinzu, wo die Vögel gezüchtet und gefüttert wurden. Nach und nach liess man sie fliegen, in der Hoffnung, dass sie sich selber zurechtfinden würden. Dies dauerte jedoch länger als gedacht. 1980 zählte man erst 62 Brutpaare, dann zur Jahrtausendwende 175, und erst ab 2008 ging es mit dem Bestand steil bergauf, bis auf den Höchststand im letzten Jahr mit 1081 Paaren. Sie müssen nun ihr Futter selber finden, was sie allem Anschein nach auch gut imstande sind.
Ausbreitung ist im Gang
Im Säuliamt gibt es zwar keine Storchenkolonie, jedoch im nahen Murimoos, wo noch heute um die 40 Störche brüten. Und von dort aus erobern sie nun auch das Reusstal und das Säuliamt zurück – die Ausbreitung ist im vollen Gang. Dankbar nahmen die Vögel die Initiative der Aargauischen Elektrizitätswerke an, die jeden Hochspannungsmast im Aargauer Reusstal mit einem Horst bestückten. Auf der Zürcher Seite findet man die Kinderstuben der Störche auf dem ehemaligen Haas Shopping in Ottenbach oder seit wenigen Jahren auf einer Mobilfunkantenne in Hedingen. Besetzt war 2024 auch eine Antenne beim Bahnhof Bonstetten-Wettswil – bis die Mobilfunkfirma den Horst im September entfernen liess. Die Firma wurde angezeigt und muss nun laut der Gemeinde Bonstetten bis Ende März Ersatz schaffen.
Doch warum bleiben die Störche im Winter hier, wo sie doch eigentlich Zugvögel sind? Dies hat mit dem Wiederansiedlungsprojekt zu tun. Denn Max Bloesch hatte wie erwähnt Vögel aus Algerien importiert, und diese zeigten kein Zugverhalten. Zudem wurden die Störche über Jahrzehnte gefüttert. Wer will sich schon die Mühe machen, Tausende Kilometer in den Süden zu fliegen, wenn es vor der Nase jeden Tag genug zu futtern gibt? Weissstörche sind Opportunisten, die sich von vielem ernähren können, und sie sind Kulturfolger: Sie können sich sehr gut an neue Begebenheiten anpassen. So haben auch die Störche aus anderen europäischen Ländern ihre Gewohnheiten geändert: Sie fliegen heute meist nicht mehr nach Afrika, sondern nur noch bis Spanien, wo sie sich auf den Müllhalden ernähren – und in den Reisfeldern, wo sie Rote Amerikanische Sumpfkrebse jagen.
Störche haben gute Nasen
Ich bin aber nicht nur wegen dieser Anpassungsfähigkeit von Meister Adebar fasziniert, sondern auch wegen seiner anderen erstaunlichen Fähigkeiten. So hat der deutsche Forscher Martin Wikelski herausgefunden, dass Weissstörche sehr gute Nasen haben. Zuvor dachte man, die meisten Vögel hätten keinen Geruchssinn. Wikelski ging der Frage nach, wie die Störche frisch gemähte Wiesen in weiter Entfernung innert Minuten finden. Dank eines Experiments wies er nach, dass die Vögel das frisch gemähte Gras kilometerweit riechen können. Sofort fliegen sie hin, da sie gelernt haben, dass nach dem Mähen oft Mäuse oder andere Tiere zum Vorschein kommen. Andere Vögel wie Milane oder Bussarde erscheinen erst viel später.
Aber auch die Fähigkeit der Weissstörche, bis zu zwei Tonnen schwere Horste zu bauen, erstaunt mich. Ich selber hätte keinen Plan, wie ich auf einer Handyantenne ein überaus stabiles Nest aus Zweigen bauen könnte. Den Störchen jedoch ist dies angeboren – sie können es einfach.
Und wenn das Storchenpaar dann auf dem Horst steht und im Duett klappert, dann kann man ja nur Fan sein vom charismatischen Vogel. Zuerst erscheint im Frühling das Männchen am Horst, es ist sehr standorttreu. Später kommt das Weibchen an – nicht in jedem Jahr dasselbe. Nach der Balz und zahlreichen Begattungen legt Frau Storch zwei bis acht Eier, die sie dann rund einen Monat lang ausbrütet. Je nach Nahrungsangebot und Wetter überleben meist nicht alle Jungen, und in schlechten Jahren kommt es gar zum sogenannten Infantizid: Die Eltern töten das schwächste Junge, damit die anderen genug zu fressen haben.
Ist das nun ein guter Schluss für einen Artikel über den hübschen Weissstorch? Nun, man sollte den Vogel nicht vermenschlichen – er tut das, was im Laufe der Evolution am meisten Sinn gemacht hat. Ich freue mich schon auf die nächste Begegnung mit den schwarz-weissen Vögeln, sei es auf dem Feld, wenn sie Mäuse jagen, sei es auf dem Horst, wenn sie den Hals zurückwerfen und voller Inbrunst klappern.