Der Paradiesvogel und seine «Spyre»
Etwas unverhofft wurde Serge Gabathuler zum Kneipenbetreiber. Seit 2006 führt er in Affoltern die «Spyre». Im Herzen jedoch ist er Künstler geblieben. Nun ist sein Lokal wegen Corona geschlossen – und Serge Gabathuler hat wieder Zeit, sich im Atelier seiner Leidenschaft zu widmen.

Abwarten und Tee trinken ist nicht so sehr das Ding von Serge Gabathuler. Lieber trinkt er Wein.
So war das auch eines Abends im April, als er mit einem Kumpel in seinem Atelier sass, ein Gläschen «Roten» trank und über Sinn oder Unsinn des Lockdowns sinnierte, der auch den Betrieb in seiner «Spyre» Bar und Lounge lahmgelegt hat. Serge Gabathuler griff zum Pinsel, malte ein rotes Herz auf die Holz-Schiebetür, es folgten Gesichtszüge und Buchstaben und Zahlen und Tiersujets und Sprayereien. Und weil auch Zweidimensionales nicht so sehr das Ding von Serge Gabathuler ist, hängte, klebte und schraubte er kurzerhand einen Stuhl, eine Starkstrom-Steckdose, ein Gitter, Kaffeetassen, seine Lesebrille – und die leere Weinflasche – an die Wand. Fertig war die Corona-Wandskulptur. Denn Skulpturen, die sind wiederum so ziemlich das Ding von Serge Gabathuler.
«Die Kunst begleitet mich schon mein ganzes Leben», sagt der 58-Jährige. Als Jugendlicher verbringt er seine Freizeit am liebsten in der Werkstatt der Schule, dort baut er erste Regale, Schränke oder Betten. Schliesslich macht er eine Ausbildung zum Technischen Kaufmann, merkt jedoch bald, dass ein Bürojob nichts für ihn ist. Stattdessen widmet er sich ganz der Skiakrobatik, hat jahrelang «nur das Skifahren im Kopf», schafft es in die Nationalmannschaft – bis er seine Sportkarriere im Jahr 1990 nach einem Unfall beenden muss.
Ein Friedenslicht für Zürich, eine Krone für die Fifa
Später gestaltet er für einen Freund eine Boutique, kreiert erste Möbel, eröffnet sein eigenes Atelier. Dann entdeckt Serge Gabathuler das Faszinosum «Licht», entwirft erste Leuchten und arbeitet kurz darauf vermehrt auch mit dem Element Feuer. «Durch Licht», sagt er, «werden leblose Materialien lebendig». Im Jahr 2002 erhält er den Auftrag, eine Friedenslicht-Skulptur zu entwerfen. Die acht Meter hohe Konstruktion steht vom 22. Dezember 2002 bis am 3. Januar 2003 erstmals am Bürkliplatz in Zürich, wo sie auch im kommenden Winter wieder aufgestellt werden soll.
Weitere Arbeiten folgen. 2004, zum 100-Jahr-Jubiläum der Fifa, entwarf er die Krone der Holz-Jubiläumsskulptur «Dreaming About Football» von Stephan Schmidlin, der ebenfalls im Säuliamt wohnt. Und für einen russischen Ölkonzern fertigt er 2014 eine zwölf Meter grosse Licht-Skulptur mit Titel «One Nation», die heute in Westsibirien steht.
Er restauriert das «Spyre»-Lokal
- und wird es nicht mehr los
Doch wie wurde aus Serge Gabathuler, dem Künstler, ein Barbetreiber? Durch unglückliche Umstände, wenn man so will. Er jedenfalls sagt: «Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann in der Gastrobranche lande. Das war nicht die Idee, überhaupt nicht.» Neben seinen anderen Aufträgen entwirft Serge Gabathuler weiterhin Möbel und setzt Konzepte für den Innenausbau von Lokalen um. Irgendwann habe er den Wunsch verspürt, «etwas nach seinen eigenen Vorstellungen zu kreieren». Im Jahr 2006 wird er auf das Haus an der Zürichstrasse 78 in Affoltern aufmerksam: «Die Räume waren in einem himmeltraurigen Zustand», erinnert er sich, «doch ich sah das Bijou hinter all den Tapeten und Verschalungen.» Er reisst die Teppiche raus, die Holztäfelungen und Gipsplatten – und wird nicht enttäuscht: «Dahinter ist ein ganz geiler Raum zum Vorschein gekommen.» Er schreinert eine Bar und Lounges, baut das Lokal fertig aus, will sich wieder zurückziehen, es einem Geschäftsführer übergeben ... und scheitert. «Ich wurde kalt geduscht», sagt er rückblickend. Den Betrieb eines solchen Lokals in fremde Hände abzugeben, funktioniere nicht. «Dieses Gewerbe braucht dich, als Gastrounternehmer musst du den Lifestyle voll mitleben.»
In seiner Bar ist eine Ausstellung entstanden, die niemals endet
Serge Gabathuler steht nun selber an mehreren Tagen pro Woche hinter der Bar, empfängt die Gäste, ist in seiner «Spyre» präsent (die übrigens so heisst, weil unter dem Dach des Hauses eine Kolonie von Mauerseglern, umgangssprachlich auch als «Spyre» bekannt, ihre Nistplätze hat). Er ist gerne bei seinen Gästen, diese geben ihm «u huere viel» zurück. Doch für die Arbeit im Atelier bleibt kaum noch Zeit. Dann, im November 2009, brennt das Haus nieder. Mit der Unterstützung vieler Freunde baut er innerhalb von zweieinhalb Monaten ein Holz-Provisorium auf. Im Dezember 2010 kann die «Spyre» wieder in das renovierte Gebäude einziehen.
Und die Kunst? Die lässt Serge Gabathuler immer wieder in das Lokal einfliessen. Mal schreinert er eine neue Bar, Tische oder Stühle, oder er entwirft ein Alphütten-Chalet, das in den Wintermonaten an das Haus angebaut wird. Ausgestattet wird natürlich auch dieser Raum mit Eigenkreationen: zum Beispiel mit einem hängenden DJ-Pult oder mit einem Kronleuchter aus 237 Jägermeister-Fläschchen. So wird die «Spyre» zu einer Art laufender Ausstellung. Die Kreativität sei das, was er sich mitten in seinem Job als Barbetreiber noch rausnehme. «Ich kann nicht anders, ich brauche das», sagt er, «sonst würde ich durchdrehen.»
Feder-Kopfschmuck aus Brasilien
und eine Party zum Weltuntergang
2011 nimmt er einen neuen Anlauf für ein Grossprojekt, will den «Tzolkin», den Kalender des Maya-Volks, als riesige Maschine nachbauen. Als sich seine Vision nicht komplett finanzieren lässt, habe er sich gedacht: «Dann mach ich wenigstens Deko», und verpasst der ganzen «Spyre» kurzerhand einen Maya-Look.Er engagiert eine Disney-Malerin, die ihm die Wände in einer zweieinhalb-monatigen Prozedur mit Höhlenmalereien verziert. Die Möbel, die Bar, die Stühle, alles wird bemalt – sogar der Papierspender auf dem WC. In Brasilien lässt er Kissen und traditionelle Gewänder schneidern, sein Bar-Personal trägt Feder-Kopfschmuck und Gesichtsbemalung, serviert die Getränke in Tiki-Bechern. «Es war der abstruseste Aufwand, den ich jemals betrieben habe.» Am 21. Dezember, als der Maya-Kalender endet, feiert er in der «Spyre» eine Weltuntergangsparty. Um Mitternacht löscht er das Licht, sein Personal stakst, als Mumien verkleidet, über den Bartresen. Dazu spielt er «If The World Would End» von Mike Candys. «Alles mega schräg», findet Serge Gabathuler im Rückblick.
Prince bekommt in der «Spyre» bald einen Ehrenplatz
Inzwischen wissen wir: Die Welt ging nicht unter, die Erde dreht sich noch. Der Betrieb in der «Spyre» aber, der steht seit dem 16. März still. Die Gäste fehlen ihm. Andererseits hat die Zwangspause – abseits der finanziellen Folgen – auch positive Seiten: In seinem Atelier verbringt Serge Gabathuler so viel Zeit wie seit Jahren nicht mehr und macht das, was er besonders gerne macht: Er beschäftigt sich mit dem Element «Licht». Derzeit arbeitet er an einer Wandleuchte, die er zu Ehren seines Musikidols Prince anfertigt. Sie trägt die Form seines Logos, später an der Wand wird sie mit violettem Licht hinterleuchtet. «Ich hoffe, dass sie fertig wird, bis wir wieder öffnen können», sagt Gabathuler. Bis es so weit ist, wartet er ab. Es ist ja noch etwas Wein da.