«Es gibt Behinderte und es gibt Behindernde»

Am 24. März organisiert der Behindertenverband Pro Infirmis die erste Behindertensession im Bundeshaus in Bern. Einer von 44 Teilnehmenden ist der Affoltemer Autismus-Spezialist Matthias Huber. Er erhofft sich von der Session mehr Öffentlichkeit für Behinderte und daraus resultierend mehr gesellschaftliche Teilhabe.

Matthias Huber arbeitet seit 18 Jahren als Autismusexperte und ist selber autistisch. Er ist einer von 44 Parlamentariern der Behindertensession. (Bild Salomon Schneider)
Matthias Huber arbeitet seit 18 Jahren als Autismusexperte und ist selber autistisch. Er ist einer von 44 Parlamentariern der Behindertensession. (Bild Salomon Schneider)

«Pro Infirmis» geht davon aus, dass in der Schweiz 22 Prozent der Bevölkerung mit einer Behinderung leben; dies entspricht 1,8 Millionen Menschen. Wären Menschen mit einer Behinderung anteilsmässig vertreten, wären 44 der 200 Sitze im Nationalrat von Menschen mit Behinderung besetzt. Symbolisch nehmen deshalb 44 Menschen mit einer ­Beeinträchtigung an der Behindertensession teil und diskutieren über eine im Vorfeld ausgearbeitete Resolution, die zum Abschluss verabschiedet werden soll. Die Session heisst Behindertensession, da auch die UNO eine Behindertenrechtskonvention kennt und dieser Begriff deshalb für «Pro Infirmis» naheliegend schien.

Chance und Herausforderung

Für den Affoltemer Matthias Huber ist die Behindertensession eine grosse He- rausforderung, jedoch auch eine Chance. Denn er ist autistisch: «Autismus ist eine neurologische Entwicklungsbesonderheit. Menschen mit Autismus haben eine andere Art der Wahrnehmung, des Denkens, des Lernens und kommunizieren und interagieren nicht wie die meisten Menschen. Da ich Wahrnehmungseindrücke anders priorisiere und anders verarbeite, dadurch mehr Handlungsoptionen ableite und nichts einfach und eineindeutig ist, ist Kommunikation für mich eine Herausforderung.»

Trotz seiner Behinderung hat Matthias Huber es geschafft, die Matura zu machen und ein Lizentiats-Studium in Pädagogik und Psychologie an der Universität Zürich abzuschliessen. Seit 18 Jahren arbeitet er an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern als Spezialist für Autismus-Diagnostik, -Therapie und -Beratung. Dieses Jahr hat er eine neue Herausforderung bei der Beratungsstelle der Stiftung Kind und Autismus in Urdorf angenommen.

Autisten haben oft wenige Freunde

Als Autismusspezialist hat Matthias Huber während seines gesamten Berufslebens und auch schon davor Strategien entwickelt und perfektioniert, um mit Autismus in der Gesellschaft zurechtzukommen: «Behinderungen sind ein sehr diverses Thema und Autismus ist bei jedem Betroffenen etwas anders ausgeprägt. Die meisten Menschen mit Autismus – mich inklusive – nehmen viel stärker wahr und können Unwichtiges nicht gut wegfiltern und erkennen dafür kleinste Details im Alltag. Deshalb haben wir oft Schwierigkeiten mit Veränderungen und wirken unflexibel. Ich spüre beispielsweise jegliche Kleidung ständig an meinem Körper. Wenn ein Kleidungsstück eine Naht hat, spüre ich diese Naht auf der Haut. Wenn ich ein passendes Kleidungsstück gefunden habe, kaufe ich es deshalb oft mehrmals. Damit ich die Nähte jeweils dort spüre, wo ich es gewohnt bin und es mir am wenigsten unwohl ist. Vergleichbares gilt auch für die Kommunikation. Neue Themen in der Kommunikation und Smalltalk fallen mir schwer. Warum wird genau das in diesem Moment gesagt? Was könnte ich wie darauf antworten? Was macht Sinn? Zudem kann ich Reize aller Art schlecht filtern. Ich bin stark geräuschüberempfindlich. Wenn ich mich in einem Gespräch befinde und im Raum noch andere Sachen passieren, nehme ich auch irrelevante Geräusche wahr und kann nicht gut auf das Wesentliche fokussieren. Freude und Interesse gegenüber Mitmenschen erkennbar auszudrücken, ist für viele von uns schwierig. Aufgrund dieser Kommunikationsbarrieren haben die meisten autistischen Menschen leider wenig Freunde, auch wenn sie gute Freundinnen wären.»

Autismus ist unsichtbar

Für Autismus-Betroffene gibt es einige Selbsthilfegruppen. Diese fokussieren manchmal auf ein bestimmtes Interessengebiet. Denn Autisten haben oft sehr spezielle Interessen, denen sie einen grossen Teil ihrer Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Da die Interessengebiete jedoch sehr unterschiedlich sind, finden Autisten selten Gruppen oder Vereine, welche genau ihre Spezialgebiete abdecken. Als zusätzliche Schwierigkeit kommt hinzu, dass es Autisten oft schwer fällt abzumachen, geschweige denn eine Selbsthilfegruppe zu gründen oder am Leben zu halten. Es gibt sogar Menschen mit Autismus, welche nicht sprechen können, nicht mitteilen können, wenn sie Hunger oder Durst haben. Da man den Betroffenen Autismus zudem nicht ansieht, ist die Behinderung in der Gesellschaft fast komplett unsichtbar.

Matthias Huber: «Spricht uns jemand an oder stellt uns Fragen, können wir oft nicht sofort antworten. Weil wir so viele Details verarbeiten müssen, brauchen wir viel mehr Zeit zum Überlegen. Diese Problematik wird oft als Kommunikationsunwilligkeit wahrgenommen. Da Autisten von Kindheit an mit Kontaktabbrüchen anderer leben müssen und das Soziale sehr anstrengend ist, ziehen sie sich oft zurück. Denn die Behinderung kommt erst in der Interaktion mit der Gesellschaft zum Tragen. Allein mit sich selbst fühlen sich viele von uns ok. Dennoch brauchen wir positive Erfahrungen mit Menschen.»

Ein sprachlicher Rollstuhl

Für Matthias Huber reicht es jedoch nicht, wenn Behinderungen sichtbar werden. Er will Inklusion von Behinderten – sie vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft holen: «Es gibt Behinderte und es gibt Behindernde. Behindernde sind Menschen, die von sich auf die Gesellschaft schliessen und deshalb im Verhalten und im Bausektor davon ausgehen, dass alle dieselben Fähigkeiten und Fertigkeiten wie sie haben. Probieren Sie es einmal aus, wenn sie mit dem öV von sich zu Hause, über den Zürcher Hauptbahnhof zu einem Zielort reisen. Ab dem eigenen Hauseingang darf keine Schwelle höher als 2.5 Zentimeter sein, sonst ist sie zu hoch für den Rollstuhl. Spätestens am HB verpassen Sie den Anschluss, wenn Sie die wenigen Lifte suchen, die nur schlecht gekennzeichnet sind. Behindernde verbauen Autisten mit vergleichbaren Kommunikationsbarrieren den Zugang zur Gesellschaft. Diese können nur abgebaut werden, wenn in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür entsteht, was Autismus ist und wie man damit umgehen kann.»

Mehr Behinderte in die Politik

Um dieses Verständnis zu fördern und in die Resolution der Behindertensession einzubringen, hat sich Matthias Huber erfolgreich für die Teilnahme an der Behindertensession beworben: «Ich hoffe, dass mehr Behinderte durch die Session motiviert werden, sich für politische Ämter aufstellen zu lassen und die Bevölkerung sie auch wählt. Dies wäre ein wichtiger Schritt der Anerkennung, dass die Stimmen von Behinderten Teil der Gesellschaft sind. Denn nur wenn Behinderte in der Politik vertreten sind, können die gesellschaftlichen Schwellen der Teilhabe für Behinderte systematisch abgebaut werden. Das heisst konkret, es braucht Expertise nicht nur aus der Aussensicht, sondern aus der Innensicht, aus Behindertensicht, denn diese ist kompetenter, gelingender und entwicklungspotenter. Das ist eine Tatsache.»

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