Schulabsentismus: In vielen Fällen steckt Angst dahinter

Interview mit der Schulpsychologin Irène Arrigoni zu den Fallzahlen im Bezirk Affoltern

«Kinder und Jugendliche haben immer einen guten Grund, weshalb sie sich so verhalten. Deshalb müssen wir genau hinschauen»: Irène Arrigoni, Schulpsychologin und Leiterin der Absentismus-Arbeitsgruppe im Bezirk Affoltern. (Bild Daniel Vaia)

Genaue Zahlen gibt es nicht: Aber Lehrerinnen und Lehrer, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologinnen berichten von immer mehr Kindern und Jugendlichen, die dem Schulunterricht aus gesetzlich nicht vorgesehenem Grund fernbleiben – stunden-, tage-, wochenlang. Alleine im Bezirk Affoltern dürfte es gemäss einer groben Schätzung 40 bis 50 Fälle geben.

Intensiv mit dem Thema befasst sich die Schulpsychologin Irène Arrigoni vom Schulpsychologischen Dienst in Affoltern. Sie leitet seit einem Jahr im Bezirk Affoltern eine Absentismus-Arbeitsgruppe, in der auch Schulleitende und Schulsozialarbeitende vertreten sind sowie in jährlichen Treffen KJZ und KESB Affoltern, das KJPP Dietikon und eine Vertretung der Ärzte aus dem ­Bezirk.

«Anzeiger»: Frau Arrigoni, wenn früher ein Kind nicht in den Unterricht ging, sprach man von Schulschwänzen. Versteht man unter Absentismus dasselbe?

Irène Arrigoni: Wir sprechen grundsätzlich von Schulabsentismus. Es gibt verschiedene Formen, das willentliche «Schulschwänzen» ist ein Teil davon. Häufig sind diverse Ängste, Depression oder andere psychische Störungen Gründe fürs Fernbleiben. Wir klassifizieren zudem die sogenannte fremdinduzierte Form, das heisst, dass Schülerinnen und Schüler vom familiären Umfeld von der Schule ferngehalten werden, indem sie etwa Betreuungsaufgaben zu Hause übernehmen müssen oder der Schulbesuch vernachlässigt wird. Das treffen wir jedoch selten an. Wir unterschieden auch zwischen sogenannt manifestem und latentem, also verstecktem Schulabsentismus. Unter verstecktem Absentismus versteht man Schülerinnen und Schüler, die vorwiegend unbeteiligt im Schulzimmer sitzen und sich innerlich ausgeklinkt haben. Von manifestem ­Absentismus spricht man, wenn dann jemand wirklich nicht mehr am Platz sitzt.

Welches sind gemäss Ihrer Alltagserfahrung als Schulpsychologin die wichtigsten Ursachen?

Als wichtigste Ursache fallen uns Ängste auf. Diese hindern die Kinder und Jugendliche daran, zur Schule zu gehen. Kinder und Jugendliche haben jedoch immer einen guten Grund, ­weshalb sie sich so verhalten. Deshalb müssen wir genau hinschauen und interagieren.

Vor was haben die Kinder und Jugendlichen konkret Angst?

Arrigoni: Es wird zwischen Schulphobie und Schulangst unterschieden. Schulphobie ist eine soziale Angst. Die Betroffenen – es sind eher jüngere Kinder – haben eine diffuse Angst davor, in die Schule zu gehen. Oft steckt dahinter eine Trennungsangst. Anders, die Schulangst, da geht es um konkrete Ängste wie beispielsweise Angst vor Mobbing oder Leistungsdruck, Angst vor Prüfungen oder nicht zu genügen. Vor allem jüngere Kinder können ihre Angst oft gar nicht richtig benennen. Aber auch Jugendliche in der Pubertät können oft kaum sagen, was genau in ihnen gerade abläuft. Hier sind gutes Zuhören und Geduld gefragt.

Wie haben sich die Fallzahlen in den letzten Jahren entwickelt?

Es gibt keine genauen Zahlen, aber sie haben seit der Pandemie subjektiv klar zugenommen. Laut der Gesundheitsstudie 2022/23 der Stadt Zürich haben bereits 7 Prozent der Mädchen tageweise die Schule gefehlt. In derselben Studie fünf Jahre davor waren es erst 4 Prozent. Bei den Knaben sind es rund 5 Prozent, diese Zahl ist stabil.

Wie viele Fälle von Absentismus betreuen Sie persönlich im Moment?

Ich bin insgesamt für etwa 600 Schulkinder im Bezirk zuständig und bin dieses Jahr schon in mindestens fünf Fälle involviert gewesen. Diese konnten zum Teil abgeschlossen werden, zum Teil sind wir noch im Prozess.

Es gibt eine zeitlich auffällige Parallele zwischen dem Aufkommen der sozialen Medien und der Zunahme von bestimmten Problemen, auch psychischen Problemen, bei Kindern und Jugendlichen. Spielen die sozialen Medien bei Absentismus ebenfalls eine Rolle?

Ich persönlich habe den Eindruck, ja. Beim Schulschwänzen ist einer der Gründe, dass Schülerinnen und Schüler morgens nicht aus dem Bett kommen, weil sie zu spät ins Bett gehen und schlecht schlafen. Der Medienkonsum spielt dabei oft eine Rolle, beispielsweise wenn sie bis in die Nacht hinein gamen oder auf Social Media unterwegs sind. Gerade Jugendliche können dadurch in einen richtigen Sog geraten, der es für sie schwierig macht, den Alltag noch handhaben zu können, weil die Kontrollfunktionen noch nicht ausgereift sind.

Was sind erste Zeichen für Absentismus? Wann müssten Lehrer oder Eltern hellhörig werden?

Etwa wenn Schülerinnen oder Schüler sich innerlich von der Schule verabschieden, wenn sie sich nicht mehr getragen fühlen von der Lehrerin, nicht mehr zugehörig – hier spielt also die Beziehung eine Rolle. Konkreter ist es, wenn ein Schüler beispielsweise am Montagmorgen jeweils zehn Minuten zu spät kommt oder am Freitag in der letzten Stunde fehlt. Und selbstverständlich dann, wenn jemand regelmässig fehlt. Es bewährt sich die 3/6-Regel. Wenn jemand innerhalb von sechs Wochen drei unzusammenhängende Fehlzeiten hat, dann braucht es ein Gespräch.

Was geschieht konkret, wenn eine Schule einen Absentismus-Verdacht hat?

Wichtig ist zunächst einmal die Früherkennung. Dazu gehört, dass die Schulen sämtliche Absenzen erfassen und diese auch regelmässig kontrollieren. Der erste Schritt bei auffälligen Fehlzeiten ist ein Gespräch zwischen Schülerin beziehungsweise Schüler, Eltern und der Lehrperson. Die Lehrperson fragt nach den Gründen und informiert über die Schulpflicht. Falls es in den nächsten Wochen keine Veränderung gibt, wird im nächsten Gespräch die Schulleitung involviert. So werden regelmässig Gespräche geführt und zunehmend weitere Stellen wie der Schulpsychologische Dienst einbezogen. Ganz wichtig ist auch die Arbeit der Schulsozialarbeitenden, die das Thema aufgreifen und unterstützend helfen. Die Schulleitungen haben in der Regel die ­Fallführung und unterstützen die Lehrpersonen im Prozess. Zudem vernetzen sie sich mit den beteiligten Fachstellen und den Eltern.

Sind sich Schüler und Eltern bewusst, dass im Extremfall sogar die KESB eingeschaltet wird, die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde – und dass dann sogar eine Fremdplatzierung droht, also dass das Kind dann nicht mehr bei den Eltern bleiben kann?

Es gibt tatsächlich Situationen, in denen wir die Eltern entsprechend aufklären müssen, weil ihnen die Lage nicht immer bewusst ist. Das kann verletzend sein, es ist aber wichtig, dass die Eltern rechtzeitig über das Vorgehen informiert sind.

Wie hilft man Kindern und Jugendlichen am ehesten?

Aus meiner Erfahrung ist es hilfreich, Verständnis für ihre Not zu zeigen, zuzuhören und ein tragendes Netz um sie herum zu bauen. Schuldzuweisungen oder Hinterfragen der Motivation sind kaum zielführend. Es ist von Bedeutung, dass alle involvierten Stellen am gleichen Strick ziehen. Dazu braucht es viel Arbeit und Zeit und es ist wichtig, dass alle genau hinschauen. Für einen Erfolg braucht es alle: Schüler, Eltern und die Schule.

Gibt es noch weitere wichtige Faktoren, die eine Rolle spielen?

Die Ärzte. Schulabsentismus beginnt häufig mit psychosomatischen Beschwerden, Kopfweh oder Bauchweh etwa, also mit Schmerzen, die keine körperliche Ursache haben. Es ist wichtig, somatische Ursachen ernst zu nehmen und auszuschliessen. Wesentlich erachte ich daher die Zusammenarbeit mit den Ärzten. Es muss gut abgestimmt werden, welche Massnahmen zu treffen sind. Krankschreibungen beispielsweise können nach Fall hilfreich oder kontraproduktiv sein. Ein Arztzeugnis kann den Wiedereinstieg erschweren, vor ­allem wenn der Grund im sozialen Umfeld liegt, beispielsweise bei Mobbing. Wir von der Arbeitsgruppe arbeiten deshalb vermehrt mit Arztpraxen zusammen. Es ist wichtig für die Ärzte, zu wissen, dass hinter einem Problem Schulabsentismus stecken kann.

Wird das Problem Absentismus Ihrer Einschätzung nach noch zunehmen?

Es dürfte wahrscheinlich auf diesem Niveau bleiben. Der Druck in der Gesellschaft bleibt hoch, die Zukunftsängste nehmen zu, das psychische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen ­hingegen scheint sich leider zu verschlechtern.

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