«Wir haben uns gut eingelebt»
Die Flüchtlinge aus der Ukraine dürfen in der Schweiz arbeiten – wie Viktoria Osadcha, die mit ihren Töchtern in Aeugst lebt.
Immer wieder wechselt Viktoria Osadcha im Gespräch zwischen Englisch und Deutsch. Unsere Sprache versteht sie schon sehr gut, obwohl sie erst seit März hier in der Schweiz ist. Und das nicht freiwillig. «Es gibt ein Leben vor dem 24. Februar und ein Leben danach», erzählt die 41-jährige Ukrainerin. Am 24. Februar startete Russland den Überfall auf die Ukraine, wo seither ein schrecklicher Krieg tobt. Noch immer reissen die Schreckensnachrichten von dort nicht ab – noch immer sterben Menschen im Krieg. «Wir hatten ein gutes Leben. Wir wohnten in einem grossen Haus. Nun ist plötzlich alles ganz anders. Nur weil der Krieg ausgebrochen ist, sind wir hier.»
Aktuell lebt Viktoria Osadcha mit ihren drei Töchtern Anastasia (19), Veronika (15) und Katarina (8) in Aeugst. In einer Zwei-Zimmer-Wohnung, welche ihnen durch die Gemeinde Aeugst vermittelt wurde. «Schreiben Sie bitte, dass wir dabei viel Hilfe von der Gemeinderätin Gisèle Stoller Laubi erhalten haben.» Die Angesprochene ist für das Sozialwesen und somit auch für den Bereich Asyl in der Gemeinde Aeugst zuständig. «Wir haben uns gut eingelebt. Alle Leute sind sehr hilfsbereit und freundlich mit uns», schwärmt die Ukrainerin. In Aeugst gebe es immer wieder Treffen mit der Bevölkerung, beispielsweise zum Grillieren oder zum Gespräch.
Auch die Kinder integrieren sich immer mehr hier in der Schweiz. Die jüngste Tochter besucht inzwischen die 3. Primarschule in Aeugst. Tochter Veronika hat einen dreimonatigen Integrationskurs in Dübendorf besucht, nun wird sie ab dem 22. August in die Berufsschule wechseln. Und die älteste Tochter, die fleissig Deutsch lernt, wird bald auf eine Höhere Fachschule gehen. In der Ukraine war sie an der Universität, wo sie Agronomie studiert hat. «Die Kleinste spricht schon Schweizerdeutsch und hat Freundinnen gefunden. Für die beiden Älteren war es am Anfang schwieriger. Sie haben ihre Kolleginnen und Kollegen vermisst», berichtet die Mutter. «Wir sind einfach froh, dass wir hier in Ruhe und ohne Kriegswirren leben dürfen», sagt sie.
Haus in Nähe von Butscha
Die Familie, dazu gehört auch Ehemann Igor (48), lebte in einem Vorort der Hauptstadt Kiew. Ihr Haus stand nur rund sieben Kilometer entfernt von Butscha – der Ort war tagelang in den Schlagzeilen, weil die russischen Streitkräfte dort ein Massaker unter der Zivilbevölkerung verübt haben. 300 Menschen lagen nach dem Abzug der russischen Truppen einfach tot in den Strassen. «Wir haben viele schreckliche Dinge gesehen und erlebt», berichtet Viktoria Osadcha. «Plötzlich war der Krieg da. Wir lebten in der Nähe einer Militäreinrichtung. Plötzlich hat es laut geknallt. Der Krieg war plötzlich vor unserer Haustür.» Drei Tage lang hat die Familie voller Angst sich im Keller verschanzt.
Mit dem Auto nach Rumänien
Am vierten Tag hat die Mutter beschlossen, mit ihren drei Töchtern das Land zu verlassen. Der Vater, der als Selbstständiger in der Metallbranche tätig ist, verweilt weiter in Kiew. Männer im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land grundsätzlich nicht verlassen. «Aus gesundheitlichen Gründen wird mein Mann nicht ins Militär einberufen. Er hilft aber vor Ort so gut er kann. Er spendet Geld für die ukrainische Armee.» Zudem wohnen in ihrem Haus in Kiew jetzt auch Flüchtlinge aus der Ostukraine. «Derzeit bleibt nur der Kontakt über Whatsapp. Wir vermissen unseren Mann und Vater sehr. Wir haben einen starken Familienzusammenhalt. Ich bin mit ihm schon seit 22 Jahren zusammen.»
Geflüchtet ist Viktoria Osadcha zusammen mit der Familie ihres Bruders, der ebenfalls drei Kinder hat. Väter, deren Kinder alle unter 18 Jahre alt sind, dürfen das Land verlassen. Mit einem Auto sind sie über 700 Kilometer in Richtung rumänische Grenze gefahren – dafür haben sie eine Woche gebraucht. «Es herrschte Chaos. Es bildete sich eine riesige Autoschlange, Benzin und Lebensmittel waren knapp. Und wir wurden ständig von Patrouillen kontrolliert.»
Vier Familien unter einem Dach
Die Flucht in die Schweiz war geplant. Denn der Bruder hatte Kontakt zu einer Ukrainerin hier in Aeugst – zu Tatyana Moens, die hier mit ihrem Mann Vince lebt. Die beiden haben in ihrem grossen Haus kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine spontan Flüchtlinge aufgenommen. Vier Familien, insgesamt 15 Personen, haben unter einem Dach gewohnt. Auch Viktoria Osadcha mit ihren Töchtern und ihr Bruder mit seiner Familie. Inzwischen leben alle aus der Ukraine Geflüchteten in eigenen Wohnungen – so auch der Bruder von Viktoria Osadcha, der mit seiner Familie ebenfalls eine Wohnung in Aeugst bewohnt. Vor dem Krieg arbeitete Viktoria Osadcha selbstständig als PR-Beraterin. Sie hat internationale Konferenzen auch für Politiker organisiert.
Ein paar Jahre in der Schweiz bleiben
Wie alle aus der Ukraine in die Schweiz Geflüchteten besitzt sie den S-Status und darf in der Schweiz arbeiten. Derzeit ist sie bei der Pro Senectute, Stützpunkt Zimmerberg und linkes Zürichseeufer, tätig. Für sie zuständig ist André Wöllmer, der Stützpunktleiter. «Er betreut mich sehr gut. Ich bin sehr froh, dass ich arbeiten darf.» Sie betreut drei ältere Personen, die in Stallikon, Ottenbach und Oberrieden wohnen. Sie ist keine Pflegerin, sondern hilft den Kunden bei den täglichen Arbeiten: Viktoria Osadcha geht mit ihnen spazieren, einkaufen oder hilft bei organisatorischen Sachen. «Wir reden Englisch oder Deutsch. Die Frauen und Männer sind sehr nett und interessiert daran, was in der Ukraine passiert», erzählt die Ukrainerin. Und wie sieht sie die Zukunft ihrer Familie? «Ich möchte jetzt ein paar Jahre in der Schweiz bleiben, bis meine Töchter ihre Ausbildung fertig haben. Dann wollen wir irgendwann zurück in die Ukraine und beim Wiederaufbau der Gesellschaft helfen.» Sie hofft, dass auch ihr Mann in die Schweiz kommen kann. «Es braucht die Waffenlieferungen aus Europa für die Ukraine. Nur wenn wir uns verteidigen können, haben wir eine Chance, wieder eigenständig zu leben.» Ihr Land verteidige nicht nur sich selbst, sondern die Demokratie in ganz Europa – sagt sie mit fester Stimme auf Deutsch.
Bund zahlt Pauschale an die Gemeinden
Der Bund zahlt den Gemeinden pro Ukraine-Flüchtling mit Status S monatlich die «Globalpauschale 1» von 1580 Franken. Davon bezahlt werden muss beispielsweise die obligatorische Krankenversicherung von 383 Franken und weitere Gesundheitskosten wie Selbstbehalt, Franchise, Zahnarzt oder Brille. Bezahlt werden müssen auch Dolmetscherkosten, ÖV, für Behördengänge und Miete.
Die Schutzsuchenden erhalten den «Grundbedarf» für Essen, Bekleidung, Körperpflege, Haushalt et cetera von rund 430 Franken. Dieser wird individuell festgelegt. Erfahrungsgemäss reicht die Globalpauschale nicht, um alle Kosten zu decken. Den Fehlbetrag müssen die Gemeinden mit Steuergeldern finanzieren. «In der Sozialhilfe betrachten wir die Familie als Unterstützungseinheit», erklärt Ivo Lötscher, Geschäftsführer Sozialdienste Bezirk Affoltern. Bei jeder Unterstützungseinheit werde konkret ermittelt, wie hoch der finanzielle Bedarf sei. Angerechnet würden sämtliche Einnahmen der Personen in der «Unterstützungseinheit», bloss ein kleiner Einkommensfreibetrag werde als Motivationsfaktor belassen. Bei den Einnahmen wird alles angerechnet, also nicht nur der Lohn, sondern auch geschenktes Bargeld oder Sachleistungen. Konkret bedeutet dies, dass ein Arbeitslohn eingerechnet wird. Reicht der Lohn nicht, um den konkreten Bedarf zu decken, steht der «Unterstützungseinheit» eine Restunterstützung zu, wie Lötscher erklärt. (uc)