Wo sich Fuchs und Reh guten Morgen sagen

Sommerserie «Bauten und Menschen»: Ein frühmorgendliches Erlebnis mit dem Wildhüter auf dem Hochsitz

Der mobile Hochsitz kann einfach und überall platziert werden. (Bilder zvg)

Der mobile Hochsitz kann einfach und überall platziert werden. (Bilder zvg)

Der Jagdbock steht im Wald und wird während der Treibjagd benutzt.

Der Jagdbock steht im Wald und wird während der Treibjagd benutzt.

Paul Erni mit seiner treuen Begleiterin. Dahinter einer der seltenen Hochsitze. (Bild Sandra Claus)

Paul Erni mit seiner treuen Begleiterin. Dahinter einer der seltenen Hochsitze. (Bild Sandra Claus)

Fachmännisch zusammengezimmert steht die Kanzel am Waldrand.

Fachmännisch zusammengezimmert steht die Kanzel am Waldrand.

Es ist morgens 4.30 Uhr. Paul Erni, der Wildhüter und Obmann des Jagdreviers Affoltern holt mich ab und wir begeben uns gemeinsam auf eine Safari durch heimische Wiesen und Felder. Wir beginnen mit der «Pirelli Pirsch». Das heisst, wir sitzen im Auto, wo wir uns ungehört von den wilden Tieren austauschen können, öffnen das Fenster und lassen unsere Blicke über die dunkle Landschaft schweifen. Aus der Ferne entdecken wir dank einer Wärmebildkamera eine Rehfamilie – ein Bock, eine Geiss und zwei Kitze. Ein Dachs gesellt sich dazu.

Wir fahren weiter. An der Jonentalstrasse leben die Wildtiere mitunter am gefährlichsten. Zusammen mit der Aeugsterstrasse passieren hier die meisten Wildunfälle mit allzu eiligen Autofahrern. Pro Jahr geschehen ungefähr 40 Wildunfälle. Allein im Jagdgebiet von Paul Erni. Die Aufgabe der Wildhüter ist die Beaufsichtigung des Reviers. Sie üben dabei eine polizeiliche Funktion aus. Im Falle einer gemeldeten Kollision mit einem Wildtier bedeutet dies, verletzte Tiere mit Hunden aufzusuchen, wenn nötig den Fangschuss zu setzen, die Kadaver aufzulesen und den Fall zu rapportieren. Bei einem Wildunfall gelten folgende Regeln: anhalten, sofort die Polizei informieren und auf den Wildhüter warten. Bei Missachtung droht eine teils mehrere Tausend Franken hohe Busse wegen Fahrerflucht und etwaiger Verletzung des Tierschutzgesetzes. Es ist ratsam, bei Dämmerung in Wäldern und deren Rändern entlang langsam zu fahren.

Jungfüchse tollen umher

Beim Einsetzen der sogenannten bürgerlichen Dämmerung machen wir uns auf den Weg zu unserer Kanzel. Kurz vor Verlassen des Autos erspähen wir zwei umhertollende Jungfüchse. Die Rotfüchse verfügen über ein äusserst präzises Gehör, das sie das Piepsen einer Maus über Hunderte von Metern erlauschen lässt. Sie sind grundsätzlich nachtaktiv und perfekt an das Leben in der Dunkelheit angepasst. Anders die Rehe. Ihnen ist es tagsüber zu laut und zu betriebsam geworden, so haben sie sich in die schützende Dunkelheit des Waldes geflüchtet. Rehe sind eigentlich Feldtiere. Der Mensch machte sie erst zu Nacht- und Waldtieren.

Am nahen Waldrand klettern wir die Leiter zur Kanzel hoch, eine der verschiedenen Ansitzeinrichtungen, von wo aus die Wildhüter die Tiere beobachten und wenn nötig auch schiessen. Die Kanzel ist ein geschlossener und überdachter hölzerner Beobachtungsposten. Etwa drei bis vier Meter ob Boden. Weiter gibt es niedrigere Jagdböcke, die inmitten des Waldes stehen und während der Treibjagd für einen besseren Überblick sorgen. Eher selten sind die Hochsitze geworden. Davon existieren mobile aus Metall, welche sich temporär an einem vielversprechenden Ort aufstellen lassen. Die fest platzierten Hochsitze befinden sich auf einem Holzgerüst und werden mittels einer Holzleiter erreicht.

Still sein und abwarten

Eine solche steigen wir nun empor, setzen uns auf einen quer gelegten Balken und blicken über eine satte, ruhig gelegene Wiese. Jetzt heisst es: still sein und abwarten! Dank der erhöhten Lage befinden wir uns in einer anderen Luftschicht, darum kann uns das Tier nicht riechen. So dauert es nicht lange bis ein gesunder, kräftig gebauter Rehbock über das Grasland stolziert. Er ist ­nervös. Kurz nach 5.30 Uhr strampelt ein erster Biker den sanft ansteigenden Hügel hoch. Sogleich sucht der Vierbeiner den Schutz des nahen Waldes. Paul Erni betont: «Solange die Radfahrer und alle übrigen Waldbenutzer auf den für sie vorgesehenen Wegen bleiben, werden die Wildtiere wenig gestört.» Schwierig wird es für sie jedoch, wenn die Menschen kreuz und quer durch die Wälder streifen. Dies bedeutet für sie Stress pur. Dichtes Gestrüpp und Brombeersträucher am Wegesrand helfen. Einerseits machen die Leute so kaum Abstecher in das Dickicht, andererseits finden die Wildtiere im Gestrüpp ein gut geschütztes Versteck. Die Brombeersträucher sind besonders wertvoll. Als Nahrungsquelle dienen im Sommer die Beeren und im Winter die immergrünen ­Blätter.

Im Blättermeer unter uns raschelt es plötzlich, als ein weiterer, jüngerer Rehbock erscheint. Auch er ist angespannt. Rastlos. Nach kurzer Zeit verschwindet er im Wald, um nur ein paar Augenblicke später, wie ein Pfeil angeschossen zu kommen, dicht gefolgt vom älteren Rehbock. Sie sausen quer über das Feld zum nächsten Waldstück.

Marke Eigenbau

Nach der rasanten Verfolgungsjagd ­beschliessen wir aufzubrechen. Mit den Füssen wieder am Boden, betrachte ich die Holzkonstruktion der Kanzel eingehender. Das Holz für diese Bauten bekommt die Jagdgesellschaft von den Waldbesitzern. Der Förster kennzeichnet die dünnen Tannenstämme, die daraufhin von den Jägern eigenhändig gefällt, entastet und geschält werden. Während zweier Jahre wird das Holz getrocknet, dann mit einer Lasur witterungsbeständig behandelt. Ein Mitglied der Jagdgesellschaft Affoltern ist handwerklich überaus begabt und stellt mit den Stangen und Brettern Elemente her, die danach in Teamarbeit an Ort und Stelle aufgebaut werden.

Apropos Team: Zurzeit zählt die Jagdgesellschaft vier Pächter, drei Jahresgäste und einen Lehrling. Die Pächter bezahlen einen Pachtzins an den Kanton auf acht Jahre. Die Reviere werden von den Gemeinden nach Vorgabe des ­Kantons vergeben. Dieser legt aufgrund der Bestandesaufnahme durch die Wildhüter auch die Abschussquote fest. Im Revier der Jagdgesellschaft gilt ein ungefährer Frühjahresbestand von 70 Rehen – zirka 35 männliche und 35 weibliche. Per 31. Dezember muss der geforderte Abgang des geschätzten ­Nachwuchses von gegen 35 Rehen erreicht werden. Der Abgang setzt sich aus dem Abschuss von etwa 25 Rehen sowie des Fallwilds (Auto, Hunderisse etc.) von weiteren ­ungefähr zehn Rehen ­zusammen.

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